Der Sensenmann. Hat geklingelt.

 Höflichkeit scheint die letzte Grausamkeit aus voraufklärerischen Zeiten, die uns verblieben ist. Diese freundliche Bemäntelung, die beispielsweise den Abschied unserer Zivilisation von den letzten Lebenslügen mit solchen Worthülsen wie "leider" oder "zu unserem größten Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen", "es tut uns leid" geradezu lüstern züngelnd ausschmückt, erinnert an einen Giftmischer, der noch einmal den präparierten rosa Pudding etwas zu kräftig nachsüßt.  


Wo sind die Träume von Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Großer Liebe, Freundschaft, bedeutungsreicher Begegnungen? Geschwisterlichkeit, wo das Andenken an Mentoren, die unsere Biographie entschieden beinflußt haben könnten? Oder wo ist die Tradition des Totengedenkens? Sogar diese schwindet. All diese Versprechen zerfallen oder werden in voller Absicht vorsorglich dekonstruiert.

Höflichkeit nimmt keine Rücksicht auf Realität. Was ist Realität: Jeder Mensch hat seinen Preis. Eigentlich gibt es keine Freundschaft, es gibt keine Liebe, und die Große sowieso nicht, und alle Menschen sind Händler, Krämer, Prostituierte. Nein, ein Bedauern bezüglich dieser Umstände wird nicht empfohlen. Das wolltest du doch endlich wissen, oder?

Pack alle deine Bücher zum Sperrmüll, die Bücher mit den Lehren der Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit, dem Bildungskanon für den sozialen Ausgleich, Bücher über das Leiden und Mitleiden menschlicher Kreatur, über hohe Ziele und hohe Gesinnungen, die Gitarrenstunde mit den Freiheitsliedern fürs Lagerfeuer. Vielleicht kriegst du ja in einem Antiquariat noch etwas dafür. Gerade für die mit dem Goldschnitt. Es hat geklingelt, und draußen steht der Sensenmann.

Ihr nanntet es Demokratie, doch es war eure verlängerte Spielwiese, und das Blut, was hinterm Horizont vergossen wurde, hat euch im Urlaub inspiriert, Gedichte zu schreiben, mit diesen Gedichten zu baggern, zu flirten und Kinder zu zeugen, Kinder, die es nicht einmal nötig haben würden, es besser zu haben, weil alles bestens war.  Und perfekt sein ist das mindeste, und dennoch habt ihr alle einen Jungen oder ein Mädchen gekannt, sie sind bald von eurer Schule abgegangen, damals, für die "sich blamieren" eines dieser Worte war, die man zwar immer hört, aber nicht versteht, weil man dazu erst einmal aufgeklärt werden müßte.. was "eine Blamage", in euren Augen, eigenlich ist.

Die Sterblichkeit rückt näher. Damit kann man nicht einmal Reklame machen Und authentischer wäre das Holzbein, statt aprikosiger High Tech Prothesen. So sagt man. Sinngemäß. Alle Welt ist heiß und geil auf "authentisch". So sehr, daß "oh, wie authentisch" fast zum Schimpfwort mutiert ist, und manchmal voll leisem Hohn das Gegenteil von "Professionalität" meint. Holzbein statt Raucherbein ist trotzdem geil. Denkt man sich aber nur. Letztes Jahr kam die alte Tante fast um, in ihrer Dachwohnung war es 10 Tage hintereinander 43 Grad, sie hat überlebt, um im Jahr darauf auf der Intesivstation an Covid 19 zu sterben. Alle zeigten ihr Wohlverhalten, bei der Beisetzung fehlte keiner, niemand hatte jemand etwas zu sagen, angereist waren alle trotzdem. Keiner wollte sich zum Enfant terrible machen. Wer viel hat, hat wenig zu verlieren! Außer dem guten Ruf. Diesmal durfte man sogar: Abstand halten bei den Feierlichkeiten, beim gemeinsamen Dinieren. Na bitte. Leben und Sterben, alles immer ein großes Geschäft. 

Politik, übrigens, war einmal mächtig wie die mittelalterliche Kirche. Politiker versprachen ein Ende der Geschichte und ein Paradies aus Arbeit, Freizeit und Anerkennung für alle. Zurück blieben die Ruinen alter Fabriken und Städte, zurück blieben zerfallende Freizeitparks. Viele kleine und große Tschernobyls. Zerfall, wenn auch ohne Radioaktivität. Was da einmal war, kann sich keiner mehr vorstellen, sagt man. Dabei ist es einfach: Vor allem Einkaufenkönnen war da. Bezahlenkönnen an der Kasse war da: Der Alltag. Vorfreude auf Arbeitskollegen und - kolleginnen. Vorfreude, die das Aufstehen in aller Frühe erleichterte. "Feierabend haben" gab es da, Tag für Tag. Dann das Baggern, das Feiern, das Häuserbauen, das Kinderkriegen. Ein "Normal sein" gab es da. "Wer ist schon normal?" lachte man schallend miteinander, so normal waren damals alle. Man las Zeitungen, es gab kein Internet. Man war stolz auf seine Zeitungen. Auf seine Sammlungen von Schallplatten und Büchern. Auf seinen Wagen. Auf sich selbst, ein bißchen. Alles vom Winde verweht. In Tschernobyl nisten Eulen in ehemaligen Kindergärten, da leben und gebären Wölfe, Füchse, Schakale in einstigen Wohnzimmern und Einbauküchen. Da röhren prächtige Hirsche, und umschreiten im Herbst verrostete Achterbahnen und Kettenkarusells oder alte Futtermittel-Silotürme. Aber nahe bei Fukushima, da sind sie geblieben: Einige der Bewohner. Menschen. Die fast immer ein wenig hinken. Menschen, die immer noch Gärten anlegen, gern verstrahlten Reis essen und mit fast zahnlosem Lächeln einen Tee dazu nehmen und gern auch einen anbieten. Bitte nimm einen an.

Es regnet draußen jetzt in Strömen, es stürmt dazu und du schaust aus einem Fenster. Du bist hier beschützt. Über dir gibt es ein Dach. Der Regen prasselt auf dieses Dach. Regen aus der vom Prestigekampf und Krieg der Staaten, der Systeme zerschlissenen halbkaputtnen Atmosphäre. Regen. Du kannst jeden der Tropfen hören. Und du liest im Internet über Oligarchen und Autokraten, die letzten Politiker vielleicht, die wirklich noch ein wenig Macht haben. Die sie sich mit anderen Autokraten teilen müssen. Die Epoche gigantischer Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist vorbei. Statt des großen Kalten Kriegs sind da heute viele kleine asymmetrische unaufhörliche Kriege. Kleine und etwas größere Autokraten versprechen Rache und geloben Vergeltung. Sie versprechen sich selbst und jenen, die sie wählen sollen, mit Gewalt den Sand in Gottes Mühlen zu zermalmen: Es geht ums Geld. Nicht um die Kaffeekasse, nicht um die Haushaltkasse, die wieder mal immer seltener reicht am Warenförderband des Supermarktes! "Tim, rasch, bring das zurück ins Regal!" Nein, es geht um die Waffe Geld. Toxisches Geld, was wie Radioaktivität den Zerfall unsichtbar beschleunigt.  Es geht um Geld als Strahlungswellen aus dem Hintergrund, Geld als pure Energie. Natürlich ist der Generator das Gefälle gebündelter Begierde. Hier erzeugt sich Hochspannung: Es geht um den Preis, den Preis der Menschen, den Preis der Welt. Ab wann sie einknicken? Menschen. Und ihre Mitwelt. Die Systeme, die einmal Ökologie und Demokratie versprachen, und bestenfalls ihr bißchen Innenpolitik stabil erhalten können. Während es draußen stürmt, und der Regen fällt. 

Es ist nur der Traum des 20. Jahrhunderts: Der gerade zeitgleich mit der Tante gestorben ist, ganz beiläufig. Das Vertrauen. Was haben die Leute nicht alles früher geredet. Ein Dokument mit dem Siegel eines Notars ist professioneller. Ein Schelm, wer böses dabei denkt. "Du willst Sex? Nur nach einem Notarbesuch! Du hast doch mit einer Internetbörse gedatet, um dich nicht da draußen zu blamieren und bloßzustellen? Keine Fremden belästigen! Du hast dich von deiner letzten großen Liebe per WhatsApp oder per SMS getrennt, rasch, sachlich, ich hab den zweiten Richtigen cool und wortlos auf Augenhöhe abserviert, wir hatten eh Güterteilung. Den Schlüssel zweimal umgedreht. Wozu also noch Hemmungen, nun rasch den Sex-Notar einzubeziehen? Damit wir beide die Kontrolle haben? Bist du verklemmt?" - "Nein, aber ich muß heute zur Beerdigung einer Tante. Erst danach kann ich mich bei meinem Arzt testen lassen! Kannst du solange noch warten?" - "Weiß nicht?"

Es gab da diesen Film. Mit dem Killer und dem Mädchen. Nein, dieses Mal trat er nicht in der Rolle des Beschützers auf.

Das Mädchen war unschuldig. Womit gemeint ist, daß sie nichts von all dem getan hatte, was man in einer halbwegs zivilisierten Welt als "böse" bezeichnet. Sie stand bloß wegen einer Erbschaft im Wege. Sie sagten zu dem Berufskiller: "Sie sieht gut aus, sie ist sehr jung, sie riecht gut, mach dir ein paar schöne Tage mit ihr. Dann laß sie verschwinden!"  Er observierte sie einige Tage, um die richtige Masche zu planen. Den Rest würden sein perfekt durchtrainierter Körper und das Geld erledigen.

So war's dann auch. Sie war bereits sehr gebildet für ihr Alter. Das machte nichts. Er führte sie aus, in feinste Restaurants, sie besuchten gemeinsam teure Clubs, er ging mit ihr in die Oper und ins Theater, kleidete sie ein, wie eine Prinzessin, kaufte ihr teuren Schmuck, bettete sie auf Seide und machte sie zum glücklichsten Mädchen der Welt, denn er hatte Humor. Sie lachte hell und fand ihn so süß! Den Humor aber, den konnte er gut gebrauchen, denn die Deadline des Termins rückte näher. Er betäubte sie, und erschoß sie dann. Sie hat wohl nichts gespürt. Wer stirbt denn schon so glücklich? 

Der Killer löste den Leib des Mädchens in Säure auf, verdünnte alles mit viel Wasser in der Badewanne, ein mühsames Geschäft, aber schließlich waren die Überreste seiner Prinzessin, der unschuldigen und gebildeten jungen Frau in der Toilette entsorgt. Und damit verschwunden. Weg. Spurlos. Natürlich hätten wir gerne schöne Erinnerungen an die Zeit, in der wir uns glücklich wähnten, bevor unsere Lebensabschnitts-Partner ihre wahres Gesicht zeigten und teilweise ihre Pläne offenlegten, in denen wir nur ein Stück weit vorkommen durften. Aber was hilfts? Solche Geschichten sind immer voller Täuschungen, und bedauernswert sind all die, die Monate und Jahre am Hungertuch eines chronischen Trennungsschmerzes und Liebeskummers nagen, nur weil sie nicht einsehen möchten, daß zu einer perfekten Illusion und kleinen Lebenslüge immer - zwei -  gehören. "Diese schwierigen Dinge brauchst  - du -  jetzt nicht mehr zu lernen!" sagte der Killer und bekreuzigte sich schmunzelnd vor dem Toilettenbecken, bevor er zum letzten Mal die Spülung betätigte.

Eigentlich wäre das für die Tante auch eine billigere Lösung gewesen. Wie lange wollen wir an der sentimentalen Poesie der voraufklärerischen Totenkulte noch festhalten? Das ganze geht für verarmte Leute doch nur extrem ins Geld und ist ein äußerst überregulierter Markt. Wenn wir tot sind, warum nicht einfach in eine Müllverbrennungsanlage? Sowas muß doch zu googlen sein. Und wenn nicht, wieso geht es da so einfach, solche Suchanfragen unbeantwortet zu lassen? Diese Frage ist doch bestimmt schon abertausendmal gestellt worden?  Damit auch auf Google. Vielleicht gehört es ja nicht in deine Filterblase? Wer geht wegen sowas ins Darknet?

Wie sentimental bist du noch? Nimm dies als Test. Wir haben uns längst zu Tode dekonstruiert, und eigentlich schreckt uns nichts mehr, solange es uns nicht ans Lebendige und ans Wohlbehagen geht. Wenn wir erst einmal unseren Preis erfahren werden, wird uns das Popcorn im Halse stecken bleiben.  Es hat geklingelt, und draußen steht der Sensenmann.

Vielleicht hat er nur eine Frage ...

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