Larven, Masken, Doppelleben

Es gibt die kleinen unbedeutenden Menschen, deren Leben nur Kompromiß bleibt. Sogar die kurzen und glanzvollen Augenblicke solcher Randexistenzen, wo sich gerne so etwas wie Orginalität oder Genie andeuten möchte, sind inflationäre Blasen, die sehr bald, meist auch noch still und leise, wieder kollabieren.  Perlschnüre aus leuchtenden Tagen und Augenblicken ziehen vorbei, von der Substanz äußerst günstiger Zufallsbedingungen und einer bewußt ergriffenen, träumegeschwängerten Selbstüberschätzung, die eigentlich keine ist, sondern absichtlich wie ein Rausch in Kauf genommen wird. Zu selbstreflektiert, um nicht über die eigene Erbärmlichkeit genauestens Bescheid zu wissen, ergeben sich die kleinen unbedeutenden Menschen selig einem kurzen Wahn. Gönnen sich vielleicht einmal den Luxus eines Doppellebens und spielen Bastian Baltasar Bux, wie er sich nach Phantasien wagt. 

Aber immer auf Sicht fahrend, um nicht von der Wand, auf die jedes irdische Glück nun einmal zusteuern muß, zu sehr überrascht zu werden. Zu einem grandiosen Scheitern der wirklich Großen und Mächtigen, bedeutender, staatstragender, oder krimineller und anderweitig trendsettender Menschen, gehört natürlich etwas mehr. Mindestens der Polizeieinsatz am Schluß, es rasseln Handschellen und Selbstauslöserkaskaden der Journalistenkameras, ein letztes Blitzlichtgewitter, umgeben von Shitstorms in der Parallelwelt sozialer Netzwerke und lautlosem Donnerberichten in der Presse. Aber es gibt auch die Maschinengewehrsalven nach den ekstatischen Höhenflügen von Terroristen - und Mafia-und Staats-Oberhäupter-Päärchen, die unendliche "Bonny und Clyde - Geschichte". 

Zuckmayer träumte davon in seinem "Schinderhannes", und Hermann Hesse im "Magischen Theater", was sicher vernünftiger ist, als das ganze in der vollen Realität auskosten zu müssen. Aber da mag es Vorlagen gegeben haben, die sich echt angefühlt haben könnten, echt und richtig. Für den Augenblick. Für den Moment. Wo dieses "Fahren auf Sicht" spannendes Lebensgefühl war. Dort, wo am Wegesrand noch Ziel auf Ziel folgte, Bars, Hotels, Jahrmärkte. Gar nicht schlecht, wenn sie trostlos und schäbig waren. Immerhin war man verliebt. Daher mächtig. Und unverwundbar. Bis dann wieder die Wüste kam, und  St. Nimmerlein das Ende des Tunnels eines Weges, der zu schäbig war, als daß man den "das Ziel" hätte nennen können.

Für die kleinen und unbedeutenden Kompromißmenschen ist auch auf dem Höhepunkt ihrer Phantasienreise, wo sich die Tür in das wirkliche, in das pralle Leben einmal einen Spalt breit öffnet, der Rückweg schon vorgemerkt. So weit weg, daß gestreute Brotkrumen von Vögeln weggepickt werden, und der Rückweg mit einem Male vergessen ist? So weit gehen die nicht. Es fehlen schlicht auch die Mittel. 

Es fehlen: 1.) Die Bewunderer, die man "nicht braucht", wenn sie nur auf jeden Fall da sind. 2.) Die Intelligenz, die Begabungen und Talente, die man souverän abstreiten kann, um darauf zu verweisen, jeder sei "seines Glückes Schmied". 3.) Das Einstiegskapital, das verschwiegene ("Ich hab mir alles selbst erarbeitet!") - und dann auch noch, 4.)  das wirklich Große Glück, welches sogar aus einem banalen Trottel einen Weltstar machen kann, weil gerade einer gebraucht wird, und gerade eben kein anderer da ist. 

Dort, wo aus leeren Kleiderhüllen Leute werden, braucht es immer weniger den Knigge oder den Bildhauer Pygmalion, der seiner von ihm protegierten Venus Benimmregeln einhaucht. Die bereitwilligen Blicke zahlloser Bewunderer, die Marmortreppen und Blitzlichtgewitter, die anerkennenden Medienberichte und all die klangvolle Musik, die aus dem Himmel selber zu kommen scheint, die würdestiftende Garderobe, der steigende Kontostand macht aus jeder hölzernen Gänsemagd von ganz allein die funkelnde Eintags-Göttin und Glamour-Fürstin. Und ihr Schöpfer kann seiner Fair Lady nur noch nachsehen, wie sie in ihr Glück und Elend schreitet. Wunderschön, aufreizend, würdevoll. Verglühend. Manchmal auch schon hell in Brand gesteckt, supplementiert mit teureren Alkoholica, weißem Pulver oder Psychopharmaka. Und die Presse lauert bereits, Fans diskutieren bereits ihr übliches "hätte sie...", "sie soll..", "ich an ihrer Stelle würde niemals..", "sie muß jetzt mal lernen.." usw. 

Die andere Welt, der Erfolg - , der Ruhm - , der Löwenkönig von Narnia regiert dort, - nicht das erbärmlich kleine, sondern Großes Glück, und natürlich auch die Versuchung, die böse Dämonin Mara, - denn Glück bedeutet Macht - , wird von den weniger Auserwählten durch die Kunst, kleine Doppelleben zu führen, gleichsam mit einem Dietrich oder Brecheisen aufgemacht. Auf einmal ist man dort! In einer anderen Welt, die "mittendrin im Leben" heißt. Manchmal war zuvor ein Bankraub. Meistens aber nur endlich, plötzlich: Eine Gelegenheit. Wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Also was?

Ein meist zuerstmal sorgsam gehütetes Privileg, was ein bißchen Talent zur Intrige, und die Begabung, immer ein wenig verdrängen zu können, erfordert. Und natürlich ein gewisses hierfür unerläßliches Maß überschüssiger Freizeit! Dazu nehme man noch eine Prise manipulativen Instinkt. Etwas folternde Theatralik im richtigen Augenblick. Manche mögen das.

Die Kunst der Führung von - mehr oder weniger heimlichen-  Doppelleben - denn auch hier braucht es ein begrenztes Publikum - , gedeiht eben dort, wo Fassade wichtig ist. Dort, wo Fassade auch den Anreiz schafft, zu der nach Außen zu repräsentierenden Scheinwelt sich selbst eine nicht minder illussionäre private Scheinwelt als Gegenentwurf zu zaubern. Auch dort werden immerzu Stars gesucht, weil vakante Rollen in einem löchrig gewordenen Phanstasien besetzt werden müssen. Dort kann man vieles falsch machen, doch wenn sie auffliegen, die Fehlbesetzungen, gibt es anders als bei den Weltstars kaum alternative Angebote oder eine Chance, sich nochmals neu zu erfinden. Seifenblasen sind eben nur zum Schönsein da, und zu ihrer Bestimmung gehört ein lautloses Platzen. 

Da nützt kein Geschrei. Oder die Hoffnung auf die Chaostheorie, nach der eine geplatzte Seifenblase wenigstens auf der anderen Seite der Erde vielleicht Sturmfluten, Wirbelstürme erzeugen könnte, oder die Sterne erzittern läßt. Am nächsten Tag erwacht mancher im Leergut, Emphasen sagen einem mitten im Leergut nichts mehr. Auf manche Flasche ist Pfand. Das schon. Wände und Mauern glotzen schweigend, und der Straßenverkehr hat keine Zeit. Es ist anders mit den Stürmen und Sternen. Für ein Lächeln muß man jetzt wieder eine Tasse Kaffee bestellen. Wenn man, frisch angezogen und rasiert, oder nach dem Kauf eines neuen Kleids und einem Friseurbesuch sowas wieder wagen kann.

Das Geschrei fällt auf diejenigen zurück, die sich eben noch in einer wundersamen Selbsttäuschung bespiegeln durften. Und so stehen er oder sie alleine da, einsam, und hohl, wie bislang zwar auch, aber ohne den magischen und narkotisierenden Spiegel. Gegen Geschrei helfen sedierende Medikamente. Geschrei erleichtert ja nicht, sondern gefährdet die andere, die gegenüberliegende Scheinwelt. Die der Fassade nämlich, die einen als normal gesunden und bürgerlich funktionierenden Menschen ausweist. Übrigens ein echtes Kapital! Der nur geringe Unterschied zwischen Schein und Wert unterliegt einer komplizierten metaphysischen Dialektik, für den, der solches näher zu untersuchen gewillt ist.

In einer Welt, in der gesellschaftliche Fassade einen hohen Wert bedeutet, - und erschaffen kann!, - ist eben auch das Führenkönnen von Doppelleben von höchstem Wert. Das hormonelle Belohnungssystem antwortet, je besser, je perfekter die Illusion gelingt. Also auch hier zeigt sich sofort, wer nur durchschnittliche Möglichkeiten mitbringt. Es gelingt dann eben nicht. Immerhin gibt es für teures Geld das Seitensprung-Portal, und das ist dann Arbeit, weil: Das ist nackter Markt. Hier gibt es dann überhaupt keine Liebe mehr, die den brutalen elektrischen Strom des Begehrens und Begehrtwerdens wie ein gutes Kabel isoliert und die Voltzahlen verbraucherfreundlich auf ein erträgliches Maß hinuntertransformieren würde. Dann geht es nur noch um Hochspannung. Darunter bricht jeder irgendwann einmal zusammen. "Irgendwann einmal!" Genau, das Leben, der Markt: Ist immer heute! Jetzt! Liebe interessiert sich für dein gestern. Und glaubt an dein morgen. Interessiert sich für eine Geschichte. Auch wenn sie manchmal schönfärbt, diese Liebe da, klar. Liebe kostet irgendwann zuviel: Zeit. Hat man die? Und wer mit noch weniger Glamour auskommen möchte, dem stehen, auch als Ehepaar, die Kliniken der Swingerclubs offen, mit Desinfektionsmittel-Flaschen und abwaschbaren Schmuddelwiesen. Die Armen werden ärmer. Die Dummen immer dümmer.

Die Reichen und Begabten immer reicher, immer erfahrener, geschickter und äußerst raffiniert mit ihren gewagten Saltos und, ja, ihren professionellen Luftsprüngen, den banalen Alltag in mehrschichtigen - auch nach und nach gesellschaftlich legitimierten - Doppelleben zu verlassen und zu vergessen. Klar, der Gewohnheitseffekt kann manchem noch zum Verhängnis werden, falls ein rascher, roher, gewagter und notfalls brutaler Übergriff eingesetzt wird, weil es schon für selbstverständlich gehalten wird, "daß ich unwiderstehlich bin! Man muß den Kleinen, den Zuckermäusen halt einen Schubs und einen Klapps versetzen, um sie in ihr Glück, zu einem nämlich unbegrenzt enttabuisierten und entspannten Umgang mit mir zu bewegen, damit da mehr möglich wird!" Das nimmt immer öfter kein Ende, was vom "freien Willen" "des Schmiedes" solch toxischer "Glücksmomente" noch in irgendeiner Weise manipuliert, behämmert und dirigiert werden könnte. Man(n) war halt einfach zu siegesverwöhnt. Bekam den Hals nicht voll, der einem dann langgezogen wird.

Es werden weniger, immer weniger kleine, mausgraue und unbedeutende Menschen, die sich der Vermarktung und Neutralisierung ihrer Bedürfnisse nach Romantik noch entziehen können. "Romantik", die zur Fertigware zurechtgeschnitten wird, ist keine mehr. Denn auch "der Kunde" solcher "Fertigware" wird zurechtgestutzt. Und ist nicht mehr frei handelnder Spieler in einem riskanten Spiel des Lebens. Auch wenn mancher nur eine kleine gefahrlose Zockerei suchte. Dem Uranos, dem himmlischen Erzeuger der Zufälle wird das Zeugungsglied abgeschlagen. Überall da, wo - bisher - Selbstverständlichstes, auch Schlüpfrigstes, zur Ware zurechtgestuzt wird und mechanisch "in Serie" geht. Alles Verfertigte ist nun einmal ... fertig. Komplett vorhersehbar nämlich. Der Anfang und das Ende sind überall gleich. Das verspricht auch der sonst einklagbare Kaufvertrag. "Bitte vorher unterschreiben! Damit keine lästigen Konsequenzen folgen."

Einige sind noch "stark" genug, sich alleine zu Abenteuerchen durchzuschlagen: Etwa, weil sie noch die uralten Codes beherrschen, sich immerhin einzulassen auf der freien Wildbahn ungeregelter Begegnung. Weil sie noch als geschickte Einbrecher in die festgefahren festgeschriebenen Biographien anderer hineinagieren können, dort, wo, eigentlich, alles bestens gesichert zu sein scheint.

Welch ein Luxus, in diesen Tagen der Stubenhockerei an PCs, privaten Flugsimulatoren, und Playstations auf der Basis perfekter Streetview-Animationen nicht auf ein voll reales - kostenloses und freiwillig gegebenes - lachendes "Hey, Du!" verzichten zu müssen. Vor allem von Dus, das gehört dazu, von denen man nichts oder sehr wenig weiß! Wunderschön verpackte Geschenke. Auch selber weiß man längst, wie man sich verkleidet, verpackt. Aber das kostet dann eben doch was.  Die légère Naturburschen Garderobe, so lässig, wie aus einem Abenteuerfilm, daß man ihr nicht ansieht, daß dieses Designerzeug auch noch maßgeschneidert ist. Authentisch halt: Es kostet, so bescheiden zu wirken, so lässig. So echt. Auch die Hotelsuite. Beim zweiten Mal mit einem Spiegel über dem King Size Bett. Kostet. Aber bei weitem nie soviel, wie das "nicht können", wie das "abgewiesen werden". Das kostet dann zuweilen wirklich: Teure Kur-Aufenthalte wegen "Burn out".  Besuche teurer Tantrawochenenden. Seminare bei Gurus und Coaches zur Persönlichkeitsentwicklung. Alles so nutzlos, wie Spargelextrakte oder Schlankheitsöle, die innerlich und äußerlich die Pfunde von Hüften und Seele nehmen sollen. Anbei fangen sich manche noch toxische Kur-Bekanntschaften ein, die sich stalkend anwanzen und doch nicht passen. Kein Funke will überspringen.

Der durchschnittliche, der kleine mausgraue und unbedeutende Mensch indessen, wird, erstmal noch für ihn unmerklich, zum Gespött und zur Fremdscham heiterer und lebenslustiger Passanten, die selber noch ein wenig Anteil am ganzen prallen Dasein haben. Die den einsamen Spaziergänger "Mr. Looki Looki" nennen, sein weibliches Gegenstück "Mrs. Photographier ich mir. Die schönen Blümchen". So, oder sonstwie nennen die Außenstehenden, die noch "dazugehören" die verzweifelten Herumstreuner, denen jeder anmerkt, wie sie gerne längst vergangene Ereignisse aus ihrer frühen Jugend wiederholen würden. Sie wandern wie in einer Einsamkeitsblase gefangen durch die Städte und Parks, wie auf Exkursion in einer leeren Wattlandschaft, inmitten wuselnder Menschen, von denen sie keiner kennen, noch ansprechen möchte. So unabänderlich, als hätten Götter dieses Stigma verhängt.

Die in die Watte ihrer Erinnerungen gepackten Wattwanderer träumen von Momenten, als ihnen noch "Gesichter aus der Menge herausleuchteten" und nicht eines Tages dieses unvermeidliche "ich mein den Herrn /die Dame hinter Ihnen" den tristen Tag und die schwere darauffolgende Nacht einläutete, wo sie zum ersten Mal ein fast präsuizidales unwiderstehliches Selbstmitleid empfinden mußten. Ist dieser Einsamkeits-Schmerz nicht längst ein Phantomschmerz? Längst unwiederbringlich amputierter Möglichkeiten? Einstige Potentiale, die gar keine mehr sind. Sie konnten nie genutzt werden, klar. Trotzdem verderben auch einmal lang haltbare Konserven. "Sie sind doch noch rüstig und jung!" Ja, zum Briefmarkensammeln. Noch rüstig, um Eisenbähnchen zu spielen, Puppen und Teddybärchen zu knuddeln, "Schiffe versenken" zu zelebrieren? Noch jung und fröhlich für eine Partie Stadt, Land, Fluß (im Fernsehen etwa mit Günther Jauch)? Zum wieder 12 Jahre alt werden und jünger! Wer das kann!? Aber: Wer will das, wenn er die Freuden, Siege, Kämpfe, Niederlagen der Pubertät und des mühsamen Erwachsenwerdens gekostet hat? Wieder die Freuden eines 10jährigen erleben? Dessen Gehirn noch ganz anders gestaltet war. Um es gelinde auszudrücken.

Und da war einmal, lange her, dieses unausprechlich wunderbare Gefühl, einem anderen Menschen vielversprechendes Abenteuer mit Tiefgang und Leidenschaft, und dennoch vollkommen unbeschriebenes Blatt zu sein! Fast makellos noch, und selbst, wenn man zuvor aus dem Zuchthaus geflohen, oder aus einem Arbeitslager entkommen wäre. Und auch das Du: Vielversprechend, vertrauenserweckend, trotzdem unbekannt! Jetzt aber ... bleibt einem Jeder und Jede, die man auf der Straße zwar sieht und vorsichtig beschielen oder gar ansehen darf, ein unbekannter Mensch. Wie dem Kinde die Erwachsenen, so fern werden dem vereinsamenden Menschen die anscheinend geselligen, heiteren und kommunikativen Leute, in ihrer unnahbaren Sicherheit. Oder ist man bereits Ertrinkender, der die anderen an Deck inmitten guter Unterhaltung und Gespräche auf großen Dampfern vorbeifahren sieht, oder auf dem fernen Festland lustwandeln?

Denn doch die Anmeldung beim teuren Dating-Portal? Und am bitteren Ende vielleicht sogar der Bordellbesuch, das Aufsuchen eines Callboy oder des verstruwwelten Tantramasseurs? All das hat eben so an sich, daß ein solches Unterfangen nicht nur im Geldbeutel ein Loch hinterläßt. Es fühlt sich an wie die künstlich gereiften aromalos harten Erdbeeren aus Übersee bei Lidl, gekauft, weil man sich in der großen Stadt als Hartz Vier Klient zur Erdbeerzeit keine echten Erdbeeren mehr leisten darf. Da kann man es auch gleich lassen. Was wird er denn sagen? Der Psychotherapeut. In den 10 Sitzungen, die die Kasse bezahlt? Irgendwas von "schonmal an einen Berufswechsel gedacht" und Kegelclub gegen Einsamkeit. Zu anspruchslos der Kegelclub? Wer eitler ist, besucht die Volkshochschule! Was Kulturelles lenkt ab. Bescheiden sein. Demut. Sich neu erfinden. Mut haben. Geschenkt.

Es geht immer noch eine Nummer kleiner. "Auf irgendetwas mußt du ja machen, wenn du schon ein 'Niemand' bist." Das klang in den besseren Tagen ein bißchen nach "immerhin Bescheid wissen, wie der Hase läuft"! Man kann sich so einiges mehr oder weniger kunstvoll von der Seele schreiben, sich einen "Poeten", "eine Dichterin" nennen, mal mit, mal ohne Pseudonym.

Es bleibt auch da ein Spiel mit dem Feuer. Gerade weil beim Künstlerischen, wie böse Zungen gerne behaupten, das "sich einer hemmungslosen Selbstüberschätzung ergeben" manchmal dazugehört.

Plötzlich ist da schon wieder "der Markt". Auf einmal ist da wieder dieser Imperativ, daß es ohne Balz nicht gehe! Ohne daß man alles gibt. Wie ein Kampf an der Reeling. Wer geht über Bord? Wer zündet sich hernach im Rauchsalon bei einer Tasse Tee mit selbstzufriedener Fassade und noch etwas zittriger Hand seine Zigarre an?

Der dumme Spruch vom Frosch, der so fleißig gestrampelt habe, daß die Milch in der Kanne, in die er "gestürzt sei" (oder eben geworfen wurde, was wollen Frösche in kühlen Hallen voller Milchkannen?) zu Butter geronnen sei. Er zeugt von Desinteresse sowohl an Fröschen, als auch an Butter und Milch. Und vor allem von Desinteresse an Ertrinkenden. "Soll er mehr strampeln, manchmal geschehen an Auserwählten noch Wunder!"

Seine Grenzen kennen. Aber niemals klagen. Lautet der mal ausgesprochene, mal unausgesprochen bleiben sollende Imperativ. Als wäre es das selbstversändlichste der Welt, sich - niemals - hier und da mal traurig, verlassen, niemals unwohl zu fühlen, und niemals überarbeitet. "Willst du bedauert werden?" Nein. "Bewundert werden?" Nein. "Es gibt auch nicht den geringsten Anlaß, der dich zum bedauernswerten Menschen machen würde!" heißt, daß Liebe oder gar Respekt und Solidarität anderen gebührt. Manchmal will man das gar nicht wissen, wenn man es sowieso weiß. Ein Ärgernis muß sich nun mal Kritik gefallen lassen, und die Geschichte vom "unbeschriebenem Blatt", was vom Lebensbaum gesegelt ist, mitsamt dem Apfel der Versuchung, das Märchen vom "vielversprechenden Sternenmann und der Sternenfrau", die beide einfach vom Himmel einander in den Schoß gefallen waren, findet ihr banales Ende.

De Saint-Exupérys kleine Prinzen und Prinzessinen wurden in den 80ern noch von Barby und Ken als Schullektüre verkonsumiert, zur Verschönerung einer harmlos spießigen seelischen Innenausstattung. Vielleicht ist wirklich bereits überall Porno und etwas mehr Härte angesagt. Aber kriegt man das unter einen Hut mit der Korrektheit in Zeiten von "me too"? Das war wohl immer, jahrhundertelang, die unbeantwortete Frage derer, die wenig Interesse an "Selbstwertgefühl" und diesem ganzen Mist der Coaches und Marktschreier hatten! Wie man alles, was man sieht, mitfühlt, wahrnimmt unter einen Hut kriegen soll? Nämlich unter das Schädeldach, unter das eigene! Die sich fragen, ...

...wie sie den Fokus der Interessen verengen, um Ziele zu fixieren, "Kimme, Korn, Feuer!" und sich trotzdem gern etwas mehr Zeit lassen wollten. Aber ...

Selbstüberschätzung? Das bedeutet nicht immer, "nichts zu können". Es bedeutet, es zu wagen, zum Niemand zu werden, die bürgerliche Fassade wird aufgebrochen. In einer Metamorphose. Anders als beim Führen eines Doppellebens, wo ein Innenraum geschaffen wird, diese inflationäre Blase im tiefen Meer der Anonymität, in dem man auch ertrinken und spurlos verschwinden kann, durchbrechen die Schauspieler die Sicherheit gewährende Oberfläche des grauen Menschenmeeres, der "Masse", wie man dieses Meer gerne nannte. Durchbrechen den Meeresspiegel mittelmäßiger Formalität aus Norm, Konvention und Anständigkeit, über dem verworrenen Seelen-Dschungel, und werden ein Gesicht. Ein Gesicht für die Menge, und trotzdem bleiben sie ein Niemand, dem man Alles zutraut. Wer hält das aus?

Wessen Werkzeug und Werk ist die Maske? Eignet sie der Konvention? Der Fassade?

Wessen ist die Larve? Die vorläufige Maskerade, das Spiel mit der Konvention, mit dem Vorsatz, sie für Auserwählte fallen zu lassen?

Wem eignet ein Gesicht? Dem geliebten Menschen allein? Oder einem Publikum, welches sich erwartungsvoll versammelt, hungrig nach Dasein und Leben?

Gesichter, aus der Tiefe des Meeres ans Tageslicht geholt, von innen zum Leuchten gebracht, umschwärmt von professionellen Bild-Catchern, Photographen und Kameraleuten, die ihre Netze auswerfen um Klatsch-Geschichten aus dem Wellen-Umfeld, was sie aufwerfen, abzufischen, Geschichten aus dem Stoff theatralischer Vorwürfe und moralischer Verfehlungs-Furcht. Umschwärmt auch von den Groopies, den Fischlein aus der Tiefe der Welt der Doppelleben. Und umschwärmt von Stalkern, die ein berühmtes Gesicht heiraten wollen, und sich einbilden, Erwählte zu sein und umschwärmt von "normalen" Fans, die nur so dahinträumen, in ihren eigenen Bildern und Projektionen, unterwegs. 

Abgründig ist der Seelen-Dschungel, und wir beginnen das sogleich zu spüren, wenn unsere Sehnsucht unsere bislang zufriedene Seele vor die meist gut gesicherte Haustüre ruft - und holen möchte. Der Haifisch, das Meerkrokodil, die Seewespe sind Bilder, die uns anspringen, wenn wir über Tiefe meditieren. Oder der nächtliche Angriff des Säbelzahntigers in der herrlichen Weite und Freiheit der Savanne. Auch Schauspieler sind gefährlich. Wenn sie nicht mehr  - sich selbst -  spielen, sondern nur noch - für dich - , bist du schon fast in Gefahr. Auch Wahrhaftigkeit erfordert ein nahezu perfektes Timing im Spiel, wenn dir jedoch niemand glauben will, war alles umsonst. Alle Rhetorik, der ganze Witz, all das Lachen, aus Tiefen emporgehoben ... Aussage steht gegen Aussage, und kann Vertrauen je 100%ig sein? Vertrauen bedeutet das Wagnis, alle Leinen zu lösen, sich treiben zu lassen. Manche ziehen einander durch gefährliche Strudel der Zweifel hindurch, das ist spannend, je nachdem, andere kreuzen gemeinsam hart am Wind. Vertrauen ist die Bereitschaft, zu träumen. Das gilt für menschliche Beziehungen wie für das Theater gleichermaßen. Sicherheit muß aufgegeben werden, Leine um Leine gelöst.

Eine Geschichte. Nimmt Fahrt auf, alles ein Spiel. Namen werden vergeben, die nach und nach zu Rollen gerinnen, mal durch geschicktes Manipulieren, mal durch vertrauenserweckende Beweise, mehr oder weniger gewollt und ungewollt. Leere Rollen und Erwartungen werden ausgefüllt oder verworfen. Hoffnungen getauscht, für falsch und richtig erklärt. Und aus leeren Masken, die wir in den Mahlstrom des ganz grauen Alltags hineinzuhalten gewohnt waren ( - er kann nicht grau genug sein, dieser verfluchte Alltag, wenn wir skeptisch, wenn wir realistisch, wenn wir desillusioniert bleiben müssen und wollen - ), Masken, um überhaupt noch jemand zu sein, ... werden durch Künste, Träume und Lügen immer lebendigere Gesichter, und Einsame fühlen sich nicht mehr so ausgestorben, wenn sie Teil eines Traumes geworden, an Bord einer Geschichte angekommen sind, inmitten des Spiels, was Leben und die Welt bedeutet, oder wenn sie, immerhin an Bord, ein paar gut gefügte Bretter vorm Kopf, die Planken scheuernd, auf den nächsten Hafen warten. Wer kann schon irgendetwas "wissen"?  

Wenn wir einsam werden, triften wir hinaus in das Namenlose, in das Anonyme und Abgründige. Beziehungen, egal welcher Art: Es sind Boote, man ist noch immer irgendwo "an Bord". Teil einer Geschichte. Sich nährend von Träumen. Wenn Menschen vergessen werden, übersehen werden, egal, wie erheiternd und abenteuerlich ein Leben in den Nußschalen der Doppelleben ist, oder auf den Yachten mondäner und legaler Beziehungen, ehrbar und ehrlich ihre Steuern zahlend und winkend, egal, wie sehr die Schauspieler unter all diesen wimmelnden Menschenseelen ihr Gesicht an eine Menge, an eine Zielgruppe verkauft haben und dafür Blumen, Doppelleben, Briefe bekommen: Wenn sie übersehen werden, vergessen werden, mitten im Spiel sogar. Gehen sie über Bord. Ertrinken sie. Langsam manchmal, und unbemerkt. Und sie vergehen. Das Meer holt uns eines Tages alle wieder zu sich zurück.





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