In einer Welt, die er nicht verstand ...

"Nicht wahr? Es gibt keinen Gott?" hatten sie ihn gefragt, .. "Du glaubst doch auch nur das, was du siehst, oder?" .. und er wußte, es war ein Lauern in ihrer Frage, es war die übliche, die uralte Drohung. Was brauchten sie einen Gott? Sie hatten ihre Abmachung und sie verstanden sich. Und zuhause wartete jemand auf sie. 


Er aber hatte niemanden. Und er besaß nichts, außer seiner Arbeit, von der er sich dankbar jeden Tag wunderte, sie erfüllen zu können! So, daß man ihn bezahlte. Und das war sehr viel.

Dieses Gespräch im kahlen Aufenthaltsraum einer Firma war nun lange her. Jetzt stand er auf einem kleinen Balkon und blickte über die breite Hauptstraße einer Stadt. In der linken Hand ein Glas mit etwas eiskaltem Gin. In der rechten eine gute Zigarette. Heute war Vollmond. "Die Säufersonne!" Auf einer Anhöhe inmitten der weiten Landschaft seiner Erinnerungen blickte er in solchen Momenten rückwärts über die Jahre hinweg, und da zählte er die Schmerzen, denn niemand paßte heute auf ihn auf. 

Dort, wo es nicht wehtat, da lagen wohl die schönen Augenblicke. Die fühlte er nicht mehr. Sie lagen im Schatten. Auch die, so hatte man ihm stets gewissenhaft erklärt, seien nichts wert, man solle der Zukunft allein hinterherlaufen. Er ließ sie laufen, all die Arschlöcher, denn er war nicht einer jener bissigen Hunde, die eben nicht unbedingt in ängstliches, sondern in trauriges Fleisch und Blut beißen. "Angst macht dich vielleicht unberechenbarer, aber Trauer? Die macht dich schwach."

"Hüte dich vor bissigen Hunden und vor gefährlichen Menschen, an Tagen, an denen ein guter Freund gestorben ist, oder dein Vater, oder deine Mutter. Und an den Tagen, an denen eine Geliebte, eine jener Weiber, die dich einmal wild, ganz und vollständig geliebt haben, die Entscheidung trifft, dich für immer verlassen zu müssen." Das wußte er, und er teilte sein bißchen Wissen mit niemandem. Er setzte sich an sein Balkontischchen, stellte das Glas mit dem Gin ab, zerdrückte sorgfältig die Glut seiner Zigarette in den kleinen gläsernen Aschenbecher und reinigte gewissenhaft die Einzelteile seiner Waffe, polierte sie mit feinem balsamischen Terpentinölgemisch nach, setzte sie wieder zusammen und prüfte behutsam die Funktionen mit leerem Magazin. - Griffsicherung. Abzugssicherung. Entsichern. Sichern. Entsichern. Abzugswiderstand prüfen. Sichern. - Auch wollte er auf einem Balkon, gut, es war spät am Abend, trübes Mondlicht und unten die Straßenbeleuchtung, keinesfalls zu lange mit seiner Waffe hantieren.  

Einen Gott. Und daß man nur an das glaube, was man sähe. Es gab nicht viel zu sehen in seiner Welt, sogar dann nicht, als ihm am Monatsende der Lohn ausgezahlt worden war, und er in erwartungsvoller Vorfreude in die Lichter der Nacht hinaustrat. Die Straßen blieben dieselben, die Gesichter der Menschen auch, abweisend, langweilig und nichtssagend. Er konnte sich jetzt etwas bestellen und das bezahlen. Es schmeckte nicht. Außerdem war das bißchen Geld zu kostbar, um alles zu kosten, was es zu kaufen gab. Er war sicher, daß man sich etwas Gutes kaufen könne. Aber dazu reichte der Monatslohn nicht, dazu reichten auch keine 100 Monatslöhne. Zehntausende Monatslöhne aber, und das wußte auch Gott, der unerreichbare Unsichtbare, der Allwissende, würden reichen, um etwas Interessantes und Gutes erleben zu können... aber diese zehntausende Monatslöhne waren ferner als Gott, es gab sie nicht. Es gab nur ihn, es gab seine Einsamkeit, seine Zigaretten und der Alkohol, der tatsächlich ganz gut seine Wirkung tat. Man durfte einfach nur nicht zugeben, daß man ihn spürte und ihn allein wegen der Wirkung trank. Das war ganz leicht.

Die Menschen, die ihn umgaben, waren alle lang schon gebrochen worden. Sie hatten gelernt, nichts mehr zu wollen. Nichts wirkliches. Schon gar nicht von anderen. Nur gegen Bezahlung, das schon. Man hatte so seine Abmachungen. So, wie man Lieferanten ein Trinkgeld gibt, zahlte man Leuten hier und da, je nach Gefühl ein Bier. Oder auch mal zwei, oder drei. Man nannte das "jemanden einladen". Eigentlich ging es darum, jemand anderes ein bißchen abzuklopfen, um herauszufinden, wie er so tickt. Auf ähnliche Weise besuchte man sich, und knüpfte Beziehungen für kleine oder große legale und illegale Geschäfte. Es war interessant, und mit etwas Alkohol glättete man die Bedenken und machte sich im Notfall auch etwas härter und empfindungsloser. Es war nicht schwer.

Immer wieder war er zu manchen Tagen dann doch wieder davon ausgegangen, daß er Menschen aufsuche wegen ihnen selbst. Wegen dieser Menschen. Nicht wegen Geschäften. Oder um zwischendurch etwas Ablenkung zu haben, nach der öden Arbeit. Ihn interessierten irgendwie die Menschen. Beweisen konnte er es freilich nicht. Wie auch? Er nannte sie unachtsam Freunde, wenn er über sie sprach, und das war gut so, fand er, denn er wollte niemanden erpressen. Zu oft hatte er immer wieder sagen gehört: "Wenn du mein Freund sein willst, dann mußt du...!", "Er und er, und er auch müssen sich unsere Freundschaft erst erringen, sonst müssen wir eben die Konsequenzen ziehen, falls sie anfangen, uns auf der Nase herumzutanzen, weißt du? Wir müssen ...!"

Er glaubte, daß ihn die Mädchen besuchten, wegen ihm selbst. " 'Um meiner selbst willen', wie es dort heißt, wo sie feinsprechen!" dachte er schmunzelnd.

Doch immer wieder brachte man ihm bei, stur und klar und deutlich: "Du kommst nicht wegen mir zu mir, du kommst wegen dir! Merke dir das einfach mal, Mensch! Und jetzt mach dir ein Bier auf, entspann dich. Wir müssen alle kucken, wo wir bleiben. Klar bist du in Ordnung, weißt du? Aber ich heiße dich hier willkommen und bewirte dich wegen mir. Ich weiß für mich allein, was ich im Moment an dir habe. Ob du das verstehst? Ist mir auch egal. Ich denke genauso an mich, wie du auch an dich denken solltest. Über die Leute mach du dir keinen Kopf. Ich bin keine Kneipe! Klar? Und frag mir nicht immerzu ein Loch in den Bauch. Ich antworte eh nur das, was ich will und was du hören sollst. Nicht was dich interessiert."

Wenn er nachts Sturm schellende Stalker sah, die in dieser Gegend hier nicht selten stockbetrunken und zeternd auf den Türschwellen unter den Klingelleisten von Haustüren Krawall machten, oder eindringlich lallend in Sprechanlagen bettelten, wurde ihm das klarer und klarer. Hier war jemand, der jemandem anders auf die Nerven ging, und der in eigener Sache auf eine Dienstleistung pochte, die die nicht die Tür öffnende Person nicht mehr zu gewähren gewillt war. Egal, ob es um eine Beziehung, oder um das Kinderbesuchsrecht oder wieder nur noch ums Geldleihen oder um Drogen ging.

Inzwischen war ihm sogar in den schönsten Momenten seines Lebens nach und nach immer deutlicher klargeworden, daß auch die hübschen Mädchen nicht wegen ihm zu ihm kamen, sondern wegen sich selbst. "Um ihrer selbst willen besuchen die mich wohl. Leider."

Eine einsame und gebrochene, eine käufliche Welt. Jeder, der sich zu anderen aufmachte, sie zu besuchen, vielleicht kennenzulernen, kam am Schluß immer nur bei sich selber an. Eine runde Sache. Schluß war meistens ganz, ganz schnell. Eine Welt, in der Freude, Mitleid und Trauer Luxus waren, und einen teurer zu stehen kommen konnten, als ein Vollrausch am Vortag. Und der größte Luxus war es hier, das vergessen zu dürfen! Den Glauben zu pflegen, daß der Schorsch mich wegen mir besucht, und nicht, um sich von seiner leeren Langeweile abzulenken, und daß ich Birgit besuche, weil ich sie und niemand anderes als sie zu sehen wünsche. Etwas den Gläubigen, den Menschenfreund spielen, in einer Welt, die hier sowieso keiner verstand. 

Das hatte ihm zumindest eingebracht, daß ihm Menschen vertrauten. Wenigstens dann, und immer genau so lange, wie bei ihnen die Geschäfte schlecht liefen und sich deren Freunde an keine Abmachungen mehr halten wollten. Wurde es wieder anders, lief es wieder besser, blieben alle wieder lange weg. Daran hatte er sich gewöhnt. Aber man vertraute ihm. Mal konnte man so einen wie ihn gebrauchen, ein andermal eben wieder nicht. Er vertraute jedoch keinem und keiner. Er half gern. Wenn er konnte. Und oft redete er zuviel, was nicht schlimm war, da es nichts Geschäftliches war. Er merkte, wann sie lieber seiner Plauderei lauschten,  und wann sie etwas auf dem Herzen hatten. Was reif war, besprochen zu werden. Und er spürte immer was los war. Er erzählte Geschichten, um davon abzulenken, daß er mehr wußte und ahnte, als sie wissen sollten. Und um von sich selber abzulenken. Er mochte es, sich mit seinen Zuhörern gemeinsam in seinen Geschichten zu vergessen und sich mit ihnen gemeinsam darin zu verlieren. 

"Bleib noch etwas. Und Gin ist auch noch da. Und Zigaretten!", "Ich muß weg. Meine Frau wartet. Es ist nur: Der Typ, du weißt schon, wartet in letzter Zeit wieder an dieser Ecke, du weißt schon, vor meinem Wohnhaus. Mir macht das Angst, denn ich weiß wirklich nicht, ob ich es mir einbilde!", "Du wirst es erfahren, und hoffentlich überleben, hm? Du hast einen Fehler gemacht, oder? Dich überschätzt?", "Gibt es einen Sinn? Ein Leben danach?", "Das hat dich doch noch nie interessiert...!"

"Du glaubst doch auch nur, was du siehst, oder?", "Ich denke, schon, ja!"

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